Xavier ist sehr aufgeregt. Er hat gestern den Vertrag bei der neuen Bank unterschrieben. Sein Vorstellungsgespräch war erfolgreich gewesen, und nach mehreren Wochen harter Verhandlungen durch den Head Hunter erhielt Xavier von der Konkurrenz einen gar nicht mal so schlechten Vertrag. Der Head Hunter hatte natürlich ein Interesse daran, Xavier im allerbesten Licht erscheinen zu lassen, damit das Gehalt entsprechend hoch angesetzt wurde. Schließlich erhält der Head Hunter von Xaviers neuem Arbeitgeber einen gar nicht unbeträchtlichen Anteil, der sich an Xaviers Gehalt bemisst. Xavier konnte das nur Recht sein. So hatte er weniger Mühen und die Verhandlungen führte ein anderer. Er selbst konnte sich auf das konzentrieren, was er am besten beherrscht: Sich ins allerbeste Licht rücken und das Blaue vom Himmel erzählen.
Aber nun war es tatsächlich ernst geworden. Xavier hat unterschrieben. Nun muss er nur noch bei seinem aktuellen Arbeitgeber kündigen. Das will allerdings gut vorbereitet sein. Denn sobald er das Wort Kündigung ausgesprochen hat, geht es Schlag auf Schlag. Vielleicht wird sein Chef versuchen, ihn nochmal zu überreden. Mit mehr Geld natürlich. In der Bank läuft beinahe alles über Geld. Andere Motivatoren kennen die Manager nicht. Aber auch das stört Xavier nicht. Er ist ohnehin fest entschlossen, die Bank zu wechseln. Zu laut sind derzeit die Gerüchte, dass es vor der nächsten Bonusrunde einen Kahlschlag in seiner Abteilung geben soll. Nachdem er sowieso jeden Tag mit der Kündigung rechnet, fühlt er sich heute ausnahmsweise selbst in der starken Position und über die Dinge erhaben.
In den Tagen und Wochen zuvor hat Xavier schonmal einige Vorbereitungen getroffen. Das musste er aber sehr vorsichtig anstellen. Er hat spätabends oder sehr früh morgens, wenn noch wenige Kollegen da waren, bereits damit begonnen, immer wieder einige der persönlichen Habseligkeiten, die er in seinem kleinen Rollcontainer unter dem Schreibtisch aufbewahrt, in eine unscheinbare Aktentasche zu packen. Dazu auch immer wieder einmal das ein oder andere Dokument, das eventuell später wichtig werden könnte. Etwa die Namen und Telefonnummern seiner Geschäftspartner. An die meisten Daten würde er auch so wieder kommen, aber das erschien ihm eher mühsam. Da war eine kleine Liste mit Namen und eine weitere Liste mit den laufenden Geschäften als Gedankenstütze schon ganz hilfreich.
Dass die Mitnahme von sogenannten „bankinternen Dokumenten“ absolut verboten ist, das weiß Xavier. Aber wo kein Kläger, da kein Richter, sagt uns Xavier, und sowieso täten das alle. So verteile sich die Information über Kunden, Produkte, Geschäfte und Bewertungsmodelle immer schön gleichmäßig über die wichtigen Banken. Am Ende hätten sie alle durch den ständigen Austausch ihrer Mitarbeiter untereinander eine ganz eigene Art, miteinander zusammen zu arbeiten. Zumindest sieht Xavier das so, sagt er uns. Deshalb hat er auch kein schlechtes Gewissen bei der Sache. Es bereitet ihm aber durchaus schlaflose Nächte, dass er nicht sämtliche Daten, die er für interessant hält, mitnehmen kann.
Dann ist es endlich so weit. Der Tag seiner Kündigung ist gekommen. Er bittet seinen Chef um ein Gespräch. Dieser ist überrascht und hat bereits eine Vorahnung. Kurz darauf bittet er Xavier, ihm in einen Konferenzraum zu folgen. Dort fragt der Chef Xavier ganz offen: „Du willst kündigen?“
„Ja“, antwortet Xavier. Der Chef bietet Xavier wie erwartet etwas mehr Geld und einen besseren Titel an, wenn er doch bleiben sollte. Xavier schaut auf die Zahl, die der Chef ihm aufschreibt, und schüttelt den Kopf. Die andere Bank bietet mehr und ebenfalls einen besseren Titel. Da sei nichts zu machen.
Dann beginnt das Kurz-und-Schmerzlos-aber-Gründlich-Prozedere einer Kündigung. Dieses Prozedere läuft übrigens immer so ab, gleichgültig, ob jemand selbst kündigt oder ihm die Bank kündigt, erklärt uns Xavier. Es beginnt damit, dass Xavier den Konferenzraum nicht alleine verlassen darf. Er muss warten, bis ein Mann vom Sicherheitsdienst gekommen ist. Dieser nimmt Xavier dann gleich an Ort und Stelle seinen elektronischen Dienstausweis ab, sowie das firmeneigene Telefon. Danach begleietet der Sicherheitsmann Xavier zu seinem Arbeitsplatz. Dort darf Xavier seine ganz persönlichen Dinge unter den Argusaugen des Wachmannes in einen kleinen Karton packen. Dabei darf absolut kein einziger Gegenstand mit eingepackt werden, welcher der Bank gehören könnte. Also weder Papier, noch ein Bleistift oder Kugelschreiber, und nicht mal eine Büroklammer. Nur das Foto der Familie, der persönliche Kaffeebecher, die Reserveschuhe und die Jacke dürften mitgenommen werden. Die Sache geht schnell. Verabschiedungen von den Kollegen dürfen nicht stattfinden. Das wird Xavier später nachholen, wenn er alle Kollegen zu einem Drink in der Kneipe einladen wird. Jetzt geht alles sehr schnell. Die Kollegen schauen interessiert und tuscheln, ob Xavier selbst gekündigt hat oder ihm gekündigt wurde. Dann wird Xavier vom Sicherheitsmann auch schon zur Tür begleitet. Er blickt sich ein allerletztes Mal um und sieht den großen Raum, in dem er den Großteil der letzten Jahre verbracht hat, zum allerletzten Mal. Ein seltsames Gefühl, denkt Xavier, aber dann zuckt er mit den Schultern. Er folgt dem Wachmann zum Aufzug. Schweigend fahren sie nach unten. Dort geht der Mann vom Sicherheitsdienst noch sicher, dass Xavier das Gebäude auch für immer verlässt. Das war es dann, denkt Xavier, und steuert die nächstgelegene Bar an. Dort genehmigt er sich erstmal einen starken Drink. Dann ruft er den Headhunter an und hinterlässt ihm die Nachricht, dass er gekündigt habe. Dieser ist sichtlich erleichtert und genehmigt sich ebenfalls einen Drink.