Xavier: Ein Banker, den das Leben schrieb. Eine Kolumne von Martina Bahl. Heute wirkt Xavier ausgsprochen nachdenklich. Immer wieder streicht er sich über sein Haar und murmelt unverständlich vor sich hin. Es bedarf einiger Anstrengung unsererseits, bis wir ihn aus seinen Gedanken reissen können. Was denn los sei, fragen wir ihn. Xavier seufzt nur tief und schüttelt den Kopf. Er will zum Sprechen ansetzen, doch dann seufzt er erneut, diesmal noch lauter und erbärmlicher als zuvor. Wir reden ihm gut zu, uns doch zu sagen, was ihn bedrückt. Langsam beginnen wir, uns ernsthafte Sorgen zu machen. Endlich haben wir Xavier so weit, dass er uns sein Herz ausschüttet.

Xavier war beim Frisör. Nicht bei irgend einem, sondern beim Edelfrisör seines Vertrauens. Nicht etwa so ein Laden, wo jeder praktisch in der Auslage sein Haar geschnitten bekommt. In so einem Frisörsalon war Xavier seit seiner Studentenzeit nicht mehr. Nein, Xavier geht natürlich zum diskreten Luxuscoiffeur.

Bei Chez Jacques wird jeder zunächst von einer unglaublich hübschen Empfangsdame begrüßt. Nach der Abgabe der Garderobe wird man weiter in einen eleganten Wartebereich geleitet, wo man wahlweise an einer Champagnerbar oder in einer gemütlichen Ledersofagruppe Platz nehmen kann. Xavier entscheidet sich selbstverständlich stets für die Bar. Von dort wird er von einer weiteren, hübschen Dame abgeholt und in einen ganz privaten, großen, hellen Raum geführt. Das ganz intime und private Coiffeurstudio. Dort hilft ihm die hübsche Assistentin in einen eleganter Schutzmantel. Nicht etwa so ein fieser Plastikumhang, den zuvor bereits unzählige andere Kunden viel zu eng um den Hals gebunden bekommen hatten. Nein, bei Xaviers Coiffeur erhält jeder Gast einen frisch gewaschenen Mantel umgelegt.

Die Frisöre bei Chez Jacques sind allesamt männlich. Nunja, männlich wäre zu hoch gegriffen, bemerkt Xavier, aber genau das erwarte man doch von einem guten Frisör. Selbstverständlich haben alle Coiffeure klingende, französische Namen. Auch das gehört dazu. Dass der Akzent nicht immer dazu passt, darüber könne man ausnahmsweise hinweg sehen.

Xavier ist stets Gast beim selben Coiffeur. Dieser begleitet Xavier nun schon geraume Zeit. Gut gelaunt und ein Artist mit der Schere, und nie um eine Tirade an wunderbaren Komplimenten zu Xaviers Aussehen und Ausstrahlung verlegen, hat sich Xavier bei ihm auch immer wohl gefühlt. Bis zu seinem letzten Besuch bei Chez Jacques. Der Coiffeur seines Vertrauens hatte diesmal sehr traurig den Kopf geschüttelt. Beinahe wäre er in Tränen ausgebrochen, als er feststellte, dass Xaviers stolzes Haupthaar immer dünner wurde. Die kahlen Stellen würden sich wohl nicht mehr lange verbergen lassen, und das noch vorhandene Haar sei bereits unheimlich dünn und schwach geworden. Das einst so wunderbare, dichte Haar! Vorbei war es damit! Nur noch wenige Jahre, dann könnte es vielleicht ganz mit den Haaren vorbei sein, und dann würden sie sich niemals wieder sehen! Welch schrecklicher Gedanke!

Auch Xavier war bei diesen Worten den Tränen nahe. Gleich ließ er sich ein teures, neues Tonikum in die Kopfhaut einmassieren. Vielleicht ließe sich damit noch etwas retten.

Als Xavier am Ende seines traumatisierenden Besuchs bei Chez Jacques wie in Trance die dicke Rechnung samt Tonikum für zu Hause beglich, war er sehr sentimental. Wie oft würde er noch durch diese Türe gehen? Wie oft noch den Coiffeur seines Vertrauens, die Champagnerbar, die freundlichen Rezeptionistinnen sehen? War er denn wirklich alt geworden? Er, Xavier?

Wir wollen Xavier aufmuntern und sagen ihm, dass er doch dann unheimlich viel Geld sparen wird. Schließlich kostet jeder Besuch beim Luxuscoiffeur so viel wie mehrere Säcke Pferdefutter für Xaviers Rennpferde. Das hätten wir allerdings lieber nicht gesagt. Denn beim Gedanken an die gefräßigen Rennpferde raufte sich der arme Xavier seine ohnehin schon dünnen Haare.