Heute treffen wir Xavier an einem ganz anderen Ort als sonst. Denn Xavier hält einen Vortrag zu einem wichtigen Thema, und das wollen wir uns nicht entgehen lassen. Wir sind neugierig und auch etwas aufgeregt und fiebern mit Xavier mit.

Xaviers Vortrag findet im Rahmen einer zweitägigen Fachveranstaltung statt. Xavier soll dort zu den Neuerungen eines bestimmten Finanzprodukts berichten, das Xavier gemeinsam mit anderen Kollegen seiner Bank konzipiert hat. Schon seit Tagen liegt uns Xavier damit in den Ohren und erzählt uns, wie bahnbrechend revolutionär und schlichtweg genial sein Vortrag werden wird, und dass sich danach alle Zuhörer auf die Ergebnisse stürzen werden. Eigentlich, so Xavier, sollte er seine Ergebnisse gar nicht so offen und detailliert der Konkurrenz präsentieren, aber da er sich nun mal zu dem Vortrag hatte überreden lassen, bliebe ihm keine Wahl. Der Reputation kann es ohnedies nicht schaden, mutmaßt Xavier.

Xavier hat sich gut vorbereitet. Bereits vor vielen Tagen hat er damit begonnen, Powerpoint Folien zu erstellen. Wir sind gespannt, zu welch interessantem Produkt uns Xavier hier etwas erzählen wird.

Xavier hält den zweiten Vortrag nach dem Mittagessen. Das ist nicht gerade der beste Zeitpunkt für Vorträge, muss man zugeben, doch die Veranstalter haben eigens Xaviers Vortrag auf diesen Platz gesetzt, da sie hoffen, dass Xavier die Teilnehmer mit seinem spannenden Thema motivieren wird.

Xaviers Vorredner müssen wir uns ebenfalls anhören. Im Saal ergattern wir ausgesprochen gute Plätze. Links und rechts von uns sitzen sichtlich Banker, die sich mit der Materie auskennen, die manchmal nicken, dann wieder den Kopf schütteln, und sich ab und an gegenseitig Kommentare zuflüstern. Unsere Anspannung wächst immer mehr. Bald ist Xavier an der Reihe mit seinen bahnbrechenden Ergebnissen.

Endlich betritt Xavier die Bühne. Er wird als führender Experte für das gewisse Produkt vorgestellt, der uns eine wichtige, mathematische Neuerung in der Bewertung vorstellen wird. Wir lauschen gespannt.

Bereits nach der dritten Powerpoint Folie verlieren wir den Faden und damit die Konzentration. Wir hätten unsere Brille mitbringen sollen. Die Folien sind voll mit kleiner Schrift, vielen Formeln mit griechischen Buchstaben, die miteinander verschwimmen, und hier und da noch Programmiercode. Xaviers Stimme klingt angenehm aber wirklich schrecklich, schrecklich und nochmals schrecklich monoton. Xaviers Erklärungen verschmelzen in unseren Ohren zu einem langen, zähen Brei, und die Formeln auf seinen Folien werden zu bizarren, grauen Mustern. Unser Blick wird langsam starr, unsere Gedanken verschwimmen immer mehr, und wir haben Mühe, unsere plötzlich so schwer gewordenen Augenlider offen zu halten.

Erst ein leises Schnarchen zu unserer Rechten lässt uns hochschrecken. Der Banker neben uns ist eingenickt. Wir stoßen ihn leicht mit dem Ellbogen an. Er erschrickt und lässt seinen Stift fallen, den er die ganze Zeit in der Hand gehabt haben musste. Er schaut uns etwas verwirrt an und fragt: „Schon wieder Kaffeepause?“

Wir schütteln den Kopf und lächeln mitfühlend. Gleichzeitig schauen wir uns im Raum um. Diejenigen, die ihre Augen noch offen haben, kämpfen entweder ebenfalls gegen schwere Augenlider, oder sie sind mit ihren Mobiltelefonen und Tablets beschäftigt. Einen Zuhörer in der Reihe vor uns beobachten wir, wie er seine Unterlagen mit interessanten Zeichnungen vollkritzelt. Tiere, Figuren und Fantasiegebilde malt der gute Mann, und wir denken dass es gut ist, dass er Banker geworden ist und sich nicht als Künstler verdingen muss.

Irgendwann, nach einer schier endlosen Zeit, beendet Xavier seinen monotonen Monolog aus emotionslos ineinander übergelaufenen Worten. Wir danken Gott dafür, dass Xaviers Ende, zumindest das seines Vortrags, gekommen ist, und mit uns schicken sichtlich auch viele andere Banker ihr Dankeschön in den Himmel.

Xavier ist sehr erstaunt, dass es keine Fragen zu seinen Ausführungen gibt. Sichtlich stolz will er von uns wissen, wie uns sein Vortrag gefallen hat. Wir geben zu, dass alles für uns eine Stufe zu kompliziert gewesen ist, gratulieren Xavier aber dazu, diesen Vortrag so wunderbar ohne jede Aufregung gemeistert zu haben. Xavier nickt nur zufrieden. Da wir seine Erklärungen nicht ganz verstanden haben, lädt uns Xavier zu seinem nächsten Vortrag in drei Tagen ein. Dann wird er den selben Vortrag nochmals im Rahmen einer anderen Veranstaltung halten. Leider, leider, und – so betonen wir – es tut uns auch unendlich leid, aber genau an dem Tag sind wir unglücklicherweise schon verplant!