Xaviers Blog: Ein Banker den das Leben schriebXavier erzählt uns, dass er seine eleganten, schwarzen und stets teuren Schuhe noch nie selbst geputzt hat. Warum denn auch, fragt uns Xavier völlig verständnislos, es gibt doch Mr. Shoe Shine!

Das muss uns Xavier genauer erklären. Da erzählt er uns, dass tatsächlich jeden Tag ein Teenager aus Pakistan oder Indien, genau weiß es Xavier nicht, in das Großraumbüro kommt, in dem Xavier mit vielen anderen Bankern gemeinsam arbeitet. Der kleine Teenager hat einen hölzernen Schemel unter dem Arm und eine kleine Auswahl an Schuhputzutensilien. Also eine kleine Bürste, dazu Tücher zum Polieren, Schuhputzfarbe und irgendwelche Pflegewachse.

So ausgestattet geht der kleine Schuhputzer von Reihe zu Reihe, von Platz zu Platz, und fragt mit einem Lächeln und deutlichem Akzent alle nach „Shoe Shine?“. Viele der Banker nicken daraufhin, drehen sich kurz mit ihrem Bürostuhl zur Seite, und stellen einen Fuß nach dem anderen auf den kleinen Holzschemel. Der pakistanische Teenager kniet derweilen auf dem Boden, putzt und poliert die Schuhe, und steckt danach mit einem dankenden Nicken den kleinen Geldschein ein, den er für seinen Service bekommt. Daraufhin dreht sich der Banker wieder mit seinem Bürostuhl zurück zu seinem Bildschirm und arbeitet weiter. Manchmal telefonieren die Banker auch während der Schuhputzaktion, oder unterhalten sich mit einem in der Nähe sitzenden Kollegen über dies und das, Dinge eben, über die sich Banker so unterhalten. Autos, Frauen, Geld, was man mit dem Geld alles machen kann, die neuesten Investments und dergleichen.

Und so wandert der kleine Mr. Shoe Shine jeden Tag durch die Reihen der Banker, kniet zu ihren Füßen und poliert die vielen, schwarzen Schuhe der Männer. Was er wohl denken mag? Schließlich hört er jeden Tag die Gespräche der Banker, die über ihre Bankerbelange sprechen, als wäre Mr. Shoe Shine gar nicht da. Doch ganz unzufrieden scheint Mr. Shoe Shine nicht zu sein. Das Geschäft läuft gut, er hat jeden Tag Kundschaft, wenn auch nicht die übertrieben freundlichste. Doch manchmal steckt ihm einer der Banker auch einen größeren Geldschein zu, und dann, so erzählt uns Xavier, lächelt Mr. Shoe Shine noch ein bisschen breiter als sonst.

Ob es Xavier noch nicht in den Sinn gekommen ist, dass Mr. Shoe Shine sich unwohl fühlen könnte in dieser ungerechten Verteilung von Macht, Geld und Respekt? Xavier zuckt wie so oft mit den Schultern. Das Leben sei nunmal wie es sei, und im Grunde wolle er darüber nicht wirklich nachdenken, denn wichtig sei einzig und alleine, dass seine schönen Schuhe hübsch poliert würden und er sich nicht darum kümmern muss.