Wann immer wir mit Xavier sprechen, er hat ständig Angst davor, entlassen zu werden. Dabei arbeitet Xavier schon seit vielen Jahren für seine Bank. Und seit genau so vielen Jahren erzählt Xavier jedem, der es nicht hören will, dass er ohnedies bald keinen Job mehr haben wird.

Seine Umgebung nimmt Xavier mit seinem Gejammere nicht mehr ernst. Eigentlich schon lange nicht mehr. Zu Beginn haben sich seinen Freunde und seine Familie noch ernsthaft Sorgen gemacht, aber mittlerweile nicken sie nur und sagen, er würde ihnen das bereits seit vielen Jahren erzählen.

Mit seiner ständigen Arbeitsplatzverlustangst ist Xavier übrigens nicht allein. Alle seine Kollegen denken ähnlich. Das ist von Xaviers Arbeitgeber auch so gewollt und wird mit viel Aufwand und Ersthaftigkeit kultiviert. Dazu hält sich ein sehr hartnäckiges Gerücht in Xaviers Bank, und im Übrigen auch in anderen großen Investmentbanken. Nämlich, dass jedes Jahr kurz vor der Bekanntgabe des Bonus 10% der Leute entlassen werden, und zwar diejenigen, die am schwächsten in den Bewertungen und bei ihren Zielen abgeschnitten haben.

Ob es wirklich immer 10% sind und es immer um die schwächste Performance geht, das kann Xavier nicht mit Sicherheit sagen. Es stimmt allerdings, so erzählt uns Xavier, dass regelmäßig Kollegen ganz plötzlich aus dem Nichts heraus ins Büro des Chefs gerufen werden. Ohne vorherige Warnung, Abmahnung oder sonstigen Hinweis wird ihnen aus heiterem Himmel mitgeteilt, dass sie entlassen werden. Gründe finden sich immer irgendwelche, von schlechten Bewertungen durch Kollegen über magere Projektergebnisse oder mangelnden Einsatz und das Nicht-Erreichen von utopisch gesteckten Verkaufszahlen.

Vor dem Büro wartet dann bereits ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes. Dieser begleitet den geschockten Mitarbeiter, der zuvor sehr plötzlich mitten aus seiner normalen Tätigkeit gerissen worden war, zu seinem Platz. Dort darf er sein persönliches Hab und Gut einpacken, etwa das Foto seiner Familie und seine Jacke. An den Computer darf er nicht mehr, auch nicht mehr an Notizen oder sonstige Unterlagen. Dann wird ihm die elektronische Karte abgenommen, auch sein Firmentelefon sowie die Firmenkreditkarte, und er wird vor die Tür gebracht. Alles unter Beobachtung seiner Kollegen, die schweigend bei der Prozedur zusehen.

Der Computer schickt zu diesem Zeitpunkt bereits Notizen an alle, die versuchen, die Person zu erreichen, dass er oder sie nicht mehr für das Unternehmen tätig ist. Man hat allerdings auch schon von manch unglücklichen Fällen gehört, in denen die IT die Konten und Programme des Mitarbeiters schon ein oder zwei Stunden zu früh gesperrt hat, bevor der Mitarbeiter von seinem Manager über sein tragisches und plötzliches Schicksal informiert worden war. Die Information kam in diesen Fällen durch verwunderte Geschäftspartner.

Dieses Vorgeführt werden hat übrigens durchaus System, vermutet Xavier. Keiner soll wissen, wann es ihn trifft. Es kann jeden jederzeit und überall treffen, so die Message an alle. Also strengt euch an, arbeitet was das Zeug hält, seid besser als die anderen, nehmt keine Rücksicht auf Kollegen, schnappt euch Business, wo ihr nur könnt, auf welche Weise auch immer. Für Skrupellosigkeit ist noch niemand entlassen worden, für schwache Leistung hingegen schon. Also werft eure Prinzipien und alle Nettigkeit über Bord und seht zu, dass ihr die anderen mit lauteren und unlauteren Mitteln übertrumpft. Freunde finden im Job? Wozu denn? Sie könnten sowieso morgen schon wieder weg sein. Denkt lieber alle nur an euch selbst. Trotzdem sollt ihr euch nie in Sicherheit wiegen, denn es kann jeden treffen. Immer und jederzeit. Überall. We are watching you!